Ein Leben ist zu kurz, um alles zu lernen, was es noch von Siting Ron Lew zu lernen gibt.
August 2022 und ich saß wieder im Flugzeug nach San Francisco. Nach drei Jahren besuchte ich meinen Meister und chinesischen Ziehvater zum dritten Mal. Wie wird es diesmal sein. Wir hatten uns viel vorgenommen und eine Woche war wie immer sehr kurz. So ging es auch bald nach der Ankunft ohne große Verzögerung in den Garten. Alles war vertraut. Wie gewohnt spendete die große Palme bei 30 Grad ihren Schatten. Wir starteten mit Escrima. Ich wollte mehr davon verstehen. Wir übten keine einzelnen Bewegungen, vielmehr zeigte er mir grundlegende Prinzipien. Auch gut auf die Nahkampfdistanz mit der Peitsche übertragbar. Ich übte mit Gummibändern, mit Eishockeyhandschuhen und auch ohne hinzusehen. Wie immer schrieb ich den ganzen Tag über alles hinterher auf. Abends beschäftigten wir uns mit dem Buch über Escrima. Siting Ron hatte mit seinem Freund Kinya schon eine riesige Arbeit geleistet und alle Inhalte professionell vorbereitet. Ich war am lesen und wir besprachen viele Details. Es wird ein Fachbuch über Escrima für Fortgeschrittene, mit all seinem Wissen. Die Arbeit am Buch sollte unsere tägliche Abendbeschäftigung werden.
Am nächsten Tag ging es mit Escrima weiter. Nachmittags besuchte uns Sifu Rommel, sein Trainingspartner der Core of 6. Wir brauchten einige Stunden, um alle Bilder für das Buch aufzunehmen. Diese sollen die Beschreibungen anschaulicher nahebringen. Die restliche Zeit war für mich reserviert. Sifu Rommel gab sich Mühe, mir langsam zu erklären, was er mit mir trainierte. Ich war überfordert. Sein „Langsam“ war für mich trotzdem ein Feuerwerk. Sehr viel Wissen in kürzester Zeit aufnehmen und umsetzen, brachte mich an den Rand meiner Lernfähigkeit und zu einer grundlegenden Erkenntnis. Dazu später mehr. Auf alle Fälle versuchte ich wieder so viel Wissen wie möglich festzuhalten, um es weitergeben zu können.
Der nächste Morgen startete mit dem Einlösen eines Versprechens, dessen Ausmaß ich völlig unterschätzt hatte. „Wir lernen die FuHawk“. Die Lieblingsform von Siting Ron. 250 Bewegungen in über 4 Minuten. Durchschnittlich dauert bei uns eine Form eine Minute oder anderthalb bei unter 100 Bewegungen. Also los. Ich hatte schon Vorarbeit geleistet und mich mit dem grundlegenden Ablauf beschäftigt. Aber nach mehr sah es auch wirklich nicht aus. Ich musste ein kleines Stück vorzeigen. Dann wurde jede Hand- und Fußbewegung auseinandergenommen, erklärt, korrigiert. Danach unter Beobachtung üben oder erstmal Abläufe trainieren, um den Sinn der Bewegung zu erfassen. Das sah bestimmt wie im Film „Karate Kid“ aus, nur das ich deutlich älter bin und körperlich nicht so agil. Nach dem Üben habe ich alles aufgeschrieben, jeden Hinweis, jede Korrektur.
So ging es den ganzen Sonnabend und Sonntag weiter. Ein Stück vorzeigen, Korrektur, Üben, Aufschreiben. Zwischendurch mal was essen und wieder raus unter die Palme. Eine sehr angenehme Unterbrechung war da Essen mit Sifu Malia. Wir schenkten ihr unser Buch „Life & Chi“ und tauschten uns über viele Themen intensiv aus. Wie gewohnt eine sehr herzliche und aufgeschlossene Atmosphäre. Diese Begegnung hat mich aufs Neue sehr motiviert und inspiriert. Ihre Wertschätzung und Offenheit sind äußerst erfrischend. Danach ging es wieder ans Üben und Korrigieren. Die Blätter füllten sich und die Notizen wurden immer weiter verfeinert. Einiges begriff ich erst beim Machen oder nochmal Nachfragen. In so einer Genauigkeit und Intensität eine Form zu lernen, ist wirklich komfortabel. Schade, dass das im Trainingsalltag nicht auch mit jeder anderen Form geht. Aber ich habe über diese Form auch grundlegende Dinge für die anderen Formen erkannt und verstanden.
Am Montag wurde ich erneut überrascht. „Heute Nachmittag nehmen wir alles auf.“ Also nochmal präzise bis in jede Fingerhaltung alles üben und verinnerlichen. Wir teilten nach chinesischem Vorbild die Form in Bilder auf, die es ja schon gibt. So entstanden zwölf einzelne Filme, die zusammen die ganze Form zeigen. Auch Siting Ron hatte seine Kleidung angelegt, denn auch er wollte die Form zeigen. Ich glaube, es gab bisher keine Filmaufzeichnungen dieser Form mit ihm. Ich bin begeistert, wie ausdrucksstark und beweglich er diese, seine Form immer noch zeigen kann. Da bin ich sehr weit von weg und komme wohl auch nicht mehr an. Es ist diese Mischung aus fließenden Tai Chi Bewegungen und kräftigen schnellen Wechseln, die diese „Finess“, wie er es nennt, ausmacht. Ich war froh, an alle Details gedacht und diese Form überhaupt ohne Aussetzer gezeigt zu haben. Als wir alles aufgenommen hatten, kam ein sehr bewegender Moment. Er überreichte mir ein T-Shirt seiner Tiger Eye Claw Schule und sagte: „Jetzt bist Du einer von meinen.“ Ich glaube, da bin noch ein Stück gewachsen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich bin sehr stolz darauf und weiß das sehr zu würdigen.
Am letzten Tag trainierten wir noch mit der Peitsche. Es ging um den Übergang von der Fern- auf die Nahdistanz. Das war wichtig für den Teil im neuen Buch, der sich mit der Peitsche in der kurzen Kampfdistanz beschäftigt. Außerdem zeigte ich, was wir so Neues in unserem Unterricht und den Seminaren machen. Siting Ron schenkte mir auch noch eine Mundharmonika und zeigte mir, wie man darauf spielt. Auch hier wieder viele Aha-Effekte, die ich gar nicht erwartet hatte. Dann ging es schon wieder zurück zum Flughafen und nach Hause. Ich sah die Stadt San Francisco mit ihrer berühmten Brücke wenigstens nochmal im Überflug. Nein, es tut mir nicht leid, dass ich nichts von der Stadt gesehen habe. Auch wenn dass für viele zu Hause schwer nachvollziehbar ist.
Wieder bin ich zutiefst dankbar, dass ich eine Woche bei Sting Ron zu Gast sein durfte. Ich bin mit der Form ein bisschen chinesischer geworden, wie er so schön sagt. Und dass soll heißen, weniger eckige Bewegungen, weicher, entspannter, ausgeglichener. Das möchte ich mir erhalten. Nicht leicht in diesem deutschen Alltag. Ich habe viel Wissen aufgenommen und festgehalten, was ich in meinen Seminaren vermitteln werde. Und in mir ist eine Erkenntnis gereift, die etwas schmerzlich, aber zugleich auch befreiend ist. Mein Leben wird nicht ausreichen, alles von ihm zu lernen, was ich lernen möchte. Daher verstehe ich mich zukünftig mehr als Vermittler, der das Wissen von Siting Ron sammelt und weitergibt. So zum Beispiel, indem ich Sifu Rommel nach Deutschland eingeladen habe, damit alle Interessierten von ihm lernen können und dadurch ihren Horizont erweitern. Dazu zähle ich auch das Erlernen der FuHawk. Kaum einer in Deutschland kann meine neue Lieblingsform. Ich darf und werde diese Form zu passender Zeit weitervermitteln. Nicht zuletzt das Buch über Escrima, was in den nächsten Tagen veröffentlicht wird. Auch hier sehe ich meinen Beitrag in der Multiplikation dieser Kunst, ohne dass ich da jemals eine Meisterschaft erreichen werde. Aber wenn nur ein paar Interessierte und Fleißige durch die Erfüllung meiner Mission Fortschritte erreichen, hat sich die Mühe gelohnt. Natürlich werde ich mich auch weiter darum kümmern, dass Siting Ron noch so lange wie möglich nach Deutschland kommen kann, damit wir alle sein Wissen und Können aus erster Hand erleben und erlernen. All das ist für mich eine Aufgabe des Herzens, denn ich möchte seiner Aussage „Du bist mein chinesischer Adoptivsohn“ alle Ehre erweisen.
Das Eskrima Buch könnt Ihr HIER kaufen!